Vom Ackerland zum Kultur- und Arbeiterviertel
Freiburgs älteste, echte Stadterweiterung ist schon aus historischer Sicht ein faszinierender Ort. Der Berliner Tour-Anbieter „Eat the World“ beleuchtet auf seinen Stadtteilführungen aber nicht nur diese und die aktuellen Seiten des Stühlingers, sondern lädt zudem hier und da zu kulinarischen Häppchen ein. Von Reinhold Wagner
Beim Schweifen der Blicke von der belebten Wiwili-Brücke über die Bahngleise hinüber zur Herz-Jesu-Kirche und damit zum Herzstück des quirligen Freiburger Stadtteils Stühlinger fällt es schwer, sich vorzustellen, dass hier vor nicht einmal 200 Jahren noch gähnende Leere herrschte. Erst ein Blick auf den historischen Stadtplan von 1840 offenbart, wie kompakt damals die Stadt Freiburg auf den Altstadtring begrenzt war. Und das, obwohl sie ja bereits seit stolzen 700 Jahren bestand.
Der Tour-Guide wendet einmal kurz die mitgebrachte Folie, und schon sieht das moderne Stadtbild deutlich verändert aus. „Mit dem Bau der Bahnlinie Basel-Offenburg setzte schlagartig die Entwicklung ein, und es entstand ein Stadtteil nach dem Reißbrett-Prinzip, in dem es schon bald darauf nur so von Fabriken, Arbeiterwohnungen, Läden und Gastronomiebetrieben wimmelte“, erzählt er. Und von diesem zweiten Eindruck hat sich bis heute erstaunlich vieles erhalten, das es zu entdecken gilt.
Ob Tourist im Urlaub oder Abwechslung Suchender auf der Durchreise, ob Besucher aus dem näheren Umland, frisch Zugezogener oder alteingesessener Freiburger – im Rahmen einer Stadtführung lassen sich immer wieder verborgene Seiten und Perspektiven, aber auch spannende Anekdoten und Zeitzeugnisse ausmachen, die einem bislang wenig oder gänzlich unbekannt waren. Beschränkt sich die Gruppe dabei auf einen ganz konkreten Stadtteil, und locken dann auch noch immer wieder zwischendurch gastronomische Zwischenstopps zu Verschnaufpausen, so können drei Stunden überaus abwechslungsreich und mit Leben gefüllt sein. Beim Besuch vorzugsweise inhabergeführter Lokalitäten wie Cafés oder Restaurants, Bäckereien oder Metzgereien, aber auch Marktständen oder Ladengeschäften steht neben der Verkostung regionaler und internationaler Leckereien auch das gegenseitige Kennenlernen im Vordergrund.
So hat es sich das Berliner Unternehmen „Eat the World“ zum Ziel gemacht, in ausgewählten Tourismusstädten Stadtteilführungen anzubieten, bei denen sowohl die Tür zu manch überraschendem Geheimtipp aufgestoßen, als auch Bekanntschaft mit ortsansässigen Gastronomen gemacht wird. Jeder der geschulten Tour-Guides bringt dabei sein individuelles Wissen mit ein. Und jede der rund dreistündigen Touren verspricht allein schon aufgrund wechselnder Routen, Guides und Gastro-Partner immer wieder Neues.
Bei den klassischen Touren, wie sie auch in Freiburg angeboten werden, werden jeweils etwa sechs verschiedene Partner aufgesucht, bei denen es kulinarische „Versucherle“ zu Probieren gibt. Und so gestaltet sich jede Tour individuell und abwechslungsreich und lässt auch Zeit und Raum für Fragen und lebendigen Austausch der Teilnehmer untereinander und mit dem Guide.
Den regen Rad- und Fußgängerverkehr achtend, zieht der kleine Tross in Freiburg über die „Blaue Brücke“ und verharrt kurz auf der Plattform oberhalb des Stühlinger Kirchplatzes, um sich vom Tour-Guide Näheres über des Stadtteils Bedeutung und Verwandlung im Laufe der Jahrzehnte erzählen zu lassen. Bevor es aber trocken zu werden beginnt, lädt die freundliche Landwirtin und Marktfrau direkt nebenan zu einem erfrischenden Umtrunk aus eigener Herstellung und einem saftigen Stück Brot, das es in sich hat. Es ist Samstag, und daher findet zu dieser Zeit gerade der Bauernmarkt statt. An anderen Tagen schlägt die Gruppe die entgegengesetzte Richtung ein und besucht beispielsweise den ältesten Bio-Markt des Stadtteils oder die jüngste, nachhaltige Unverpackt-Drogerie im nostalgischen Ambiente der „Alten Apotheke“. Auch ein Weinhändler liegt am Weg, sodass es neben Festem das eine oder andere Mal auch Flüssiges zu Probieren gibt. Und so windet sich der Tross von ein paar wenigen bis zu maximal 16 Teilnehmern kreuz und quer durch die Gassen – einmal auf historischen, alteingesessenen Spuren, und schon bald wieder auf Entdeckungsreise zu neu eröffneten Lokalitäten unter innovativer, kreativer Leitung.
Selbst für den Tour-Guide gleicht keine Tour der anderen, denn auch er wird immer wieder überrascht und konfrontiert mit kurzfristigen Absprüngen oder Schließungen auf der einen, aber auch willkommenen Neueröffnungen und Hinzugewinnen auf der anderen Seite. Mancher Gastro-Partner sprudelt nur so vor Erzählfreude, andere überlassen alles lieber dem Guide. Und dieser versteht es, durch Fragen und Anregungen in die Runde, auch die Teilnehmer immer wieder zum Mitdenken zu aktivieren. Wobei es oft gerade die kleinen, versteckten Details sind, die es im Viertel aufzuspüren gilt, und hinter deren Existenz sich nicht selten ganze Lebensschicksale verbergen. Wie das des Freiburger Pflästerermeisters aus dem 19. Jahrhundert, der sich meisterhaft darin verstand, das alte, bis dato vergessene Kunsthandwerk der Pflastermosaike zu neuem Leben zu erwecken. Oder das des einst im Stühlinger beheimateten Malers Julius Bissier und seiner Frau, deren Talent er es zu verdanken hatte, geschickt durch die schweren Zeiten des Nazi-Regimes zu manövrieren, um zu überleben.
Überhaupt haben die beiden Weltkriege mitunter tiefe Spuren gerade auch in diesem Freiburger Stadtviertel hinterlassen, in dem doch einst so führende Firmen und Fabriken wie die des Orchestrion-Herstellers „Welte und Söhne“ oder die des Pumpenfabrikanten und Omnibusunternehmers Wilhelm Lederle ansässig waren. Ganz zu schweigen vom E-Werk und der einstigen Zentrale für Licht und Kraft, aus der Freiburg einen Großteil seiner für den industriellen Aufstieg benötigten Energie bezog.
Welch ein Glück, dass just in dem Moment, als eine Wolke den Himmel verdunkelt und es zu regnen einsetzt, die nächste Einkehr ansteht. Und so schafft es die kleine, bunt gemischte Gruppe, auch unwägbare Überraschungen auf ihrem Weg durch das Labyrinth der Gassen mit Gelassenheit zu nehmen. Der nächste Sonnenstrahl durchbricht bestimmt gleich wieder die Wolkendecke. Freiburg zählt schließlich nicht ohne Grund zu den von der Sonne am meisten verwöhnten Städten Deutschlands. Und auch die Temperaturen können sich sehen lassen, weshalb es das Angebot der Führungen ganzjährig und bei nahezu jeder Witterung gibt.
Zum gemütlichen Ausklang der Tour findet sich die Gruppe schließlich in einem Lokal ein, in dem es jedem selbst überlassen bleibt, wie lange er noch verweilen mag. Nach den zahlreichen, teils deftigen, teils süßen Verführungen sehnt sich der eine vielleicht nach einer entspannten Kaffeepause, der andere hat nach den Kostproben erst richtig Appetit auf mehr bekommen. Und wieder andere erzählen sich gegenseitig von den bereits erlebten Touren in anderen Städten Deutschlands, auf deren Geschmack gekommen sie sich zu einem regelrechten „Hopping“ durch die sehenswertesten Städte des Landes inspiriert fühlen.
Zur Info:
Neben Karlsruhe (Durlach: „Von den Staufern bis zur Industrie“ seit 2019 und Weststadt: „Brauereien und Gründerzeit“ seit 2021) hat sich der Tour-Anbieter „Eat the World“ im Schwarzwald auch Freiburg ausgesucht und bietet dort Führungen durch bislang zwei Stadtteile an: den Stühlinger (seit Juni 2018) und die Wiehre (seit Dezember 2019). Als jüngster Neuzugang kam 2022 Baden-Baden hinzu, das seine Gäste im Oostal auf eine geschichtliche Zeitreise von den alten Römern bis zur Belle Époque mitnimmt. Bis dahin hatte es in der Bäder- und Kulturstadt nur eine „Centrums-Tour“ mit starkem Schwerpunkt auf Kulinarik gegeben (seit 2020). www.eat-the-world.com.
Weitere Kulinarik-Tipps unter www.kulinarisch-schwarzwald.info
Über den Autor
Reihold Wagner
Reinhold Wagner ist freier Autor, Text- und Bildjournalist aus Freiburg. Er schreibt und fotografiert für Magazine, Bücher und Sonderseiten der Zeitung, um seine Erlebnisse in zeitlosen Reportagen mit möglichst vielen Lesern zu teilen. Ob E-Bike, Segway, Zipline oder Kajak, Abheben im Ballon oder Abtauchen ins Bergwerk – der Outdoor-Fan, Biologe und Naturfreund ist überall mit dabei. Er kennt und erlebt den Schwarzwald und die Regio immer wieder von Neuem aktiv, mit allen Sinnen und aus ständig wechselnden Perspektiven.
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