Der Weg der Holländertanne

Ende 2022 hat die Unesco die Flößerei zum Immateriellen Kulturerbe erklärt. Eines ihrer großen Zentren war der mittlere und nördliche Schwarzwald, wo heute Vereine die fast schon vergessene Tradition wiederaufleben lassen. Von Andreas Steidel

Kinzigtäler Flößerwoche

Kinzigtäler Flößerwoche – © Schwarzwald Tourismus Kinzigtal

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Wahre Meister ihres Fachs

 Flößer auf Kinzig, Enz, Nagold und Murg

Mitte 1894 setzte sich in Schiltach an der Kinzig ein ganz besonderer Trauerzug in Bewegung. Männer in hohen schwarzen Stiefeln lenkten einen Verbund von dicken Baumstämmen übers Wasser, an ihren dünnen langen Stangen baumelte ein Trauerflor. Es war die letzte kommerzielle Fahrt, zu der sie aufbrachen. Nach 500 Jahren ging auch in diesem Schwarzwaldstädtchen die Zeit der Flößerei unwiederbringlich zu Ende.

Seit dem 14. Jahrhundert hatte der Holzhandel die Schwarzwälder ernährt. Der Hunger nach Dachbalken, Schiffsplanken und Pfählen, er wurde mit jedem Jahr größer. Der Beginn der Kolonialzeit und schließlich der Industrialisierung ließ die Holzhändler in immer entlegenere Regionen vordringen.

Vor allem die starken, langen Nadelbäume waren begehrt. Sie sollten bald den Beinamen Holländertannen tragen, halb Amsterdam wurde auf dem Bauholz aus dem Schwarzwald errichtet. Jahrhundertelang gab es nur eine Möglichkeit, die großen schweren Stämme an ihr Ziel zu bringen: der Transport auf dem Wasser. Holz schwamm gut und der Schwarzwald war durchzogen von großen und kleinen Flussläufen.

Vor allem die Nordschwarzwälder wurden wahre Meister ihres Faches. Bald trieben auf Kinzig, Enz, Nagold und Murg Flöße von beeindruckender Länge. Mit geflochtenen Haselzweigen, sogenannten Wieden, band man sie zusammen, erst ein paar wenige und dann immer mehr, bis schließlich Floßverbünde, Gestöre genannt, von mehreren hundert Metern den Rhein hinabfuhren. Immer öfter nahmen sie auch Waren mit, der Kobalt aus dem Schwarzwald lieferte das Blau für die berühmten Delfter Kacheln.

Wer heute als Wanderer auf dem Flößerpfad zwischen Loßburg und Wolfach unterwegs ist, reibt sich verwundert die Augen: Auf diesem kleinen Flüsschen, über dieses Rinnsal haben die damals ihre Stämme transportiert? Doch die Holzhauer wussten sich zu helfen, richteten entlang der Kinzig Schwellweiher ein, mit deren aufgestautem Wasser sie eine künstliche Flutwelle erzeugten. Auf ihr surften die Flößer ins Tal, bis zum nächsten Stausee. Je breiter und flacher der Fluss wurde, desto größer wurden die Verbünde. Zuweilen koppelte man zehn Gestöre wie Eisenbahnwaggons aneinander.

Sie zu lenken war ein Kunststück, ein Balanceakt, der viel Geschick und Erfahrung erforderte. Bloß nicht hängen bleiben oder ins Wasser fallen! Wer unter das Floß geriet, drohte zerquetscht zu werden, manch einer, der nicht schwimmen konnte, ertrank in den Fluten.

Zu Spitzenzeiten lebten fast zwei Drittel der Menschen im nördlichen Schwarzwald von der Flößerei. Es war ein lukrativer Nebenjob, dem man zwischen April und November nachging. Wer schnell war und seinen Lohn nicht im Wirtshaus verprasste, konnte viel Geld mit nach Hause bringen. Ein Zubrot für die Familien in einer Region, in der bittere Armut herrschte. Und für die Männer ein Stück Abenteuer, das sie hinaus in die Welt führte.

Entsprechend groß war die Trauer, als Ende des 19. Jahrhunderts alles zu Ende ging. In Schiltach an der Kinzig 1894, im Tal der Murg und der Nagold ein paar Jahre später. Dort erlebte der junge Hermann Hesse die letzten großen Floßverbünde. Als Kind machte er sich einen Spaß daraus, auf sie zu springen und den Flößern zu entwischen, die ihm mit ihrer Stange nachsetzten.

Dann kam die Eisenbahn. Das erste Transportmittel, das es erlaubte, auch große Mengen schweren Materials über weite Distanzen zu transportieren. Baumstamm um Baumstamm wanderte nun auf die Waggons, binnen Kurzem lief der Schienenverkehr der traditionellen Flößerei den Rang ab

Wiederbelebung der Tradition

Flößervereine

Anfang des 20. Jahrhunderts war die Flößerei auch im Schwarzwald Vergangenheit, wenige Jahrzehnte später hatte man sie beinahe komplett vergessen. Zu den ersten, die sich wieder dafür interessierten, gehörte der Direktor des Schifffahrtsmuseums in Bremerhaven, Hans-Walter Keweloh. Der versuchte, dem Holzhandel der vergangenen Jahrhunderte auf die Spur zu kommen und landete schließlich bei den Flößern im Schwarzwald. Mitte der 1980er-Jahre war das, und ganz allmählich begann sich auch im Schwarzwald selbst ein neues Bewusstsein für die alte Tradition zu entwickeln.

Zu denen, die an ihrer Wiederbelebung tatkräftig mitwirkten, gehört Thomas Kipp, Floßmeister in Schiltach. Kipp arbeitet lange in einem Sägewerk am Ufer der Kinzig. „Holz und Wasser waren mir schon immer sehr nah“, sagt er. Er zählt zu den Gründungsmitgliedern des Vereins Schiltacher Flößer, der in diesem Jahr sein 25-jähriges Bestehen feiert. Nach und nach lernte er ein Floß zu bauen, Wieden zu drehen und einen Gestörverbund zu lenken.

Kipp ist mit seinen Schiltacher Flößern Mitglied in der Internationalen und Deutschen Flößervereinigung. In ganz Europa wird heute wieder Floß gefahren und der alten Zeiten gedacht. Zahlreiche Museen auch im Schwarzwald erinnern an die Flößerei.

Schon vor den Schiltachern hatten die benachbarten Wolfacher einen Flößerverein gegründet, einige ihrer Mitglieder gehörten zu den Gründervätern der Internationalen Vereinigung.  Auch im Oberen Nagoldtal gibt es eine sehr aktive Flößerzunft, ihr Vorsitzender Martin Spreng ist zugleich auch Bundesvorsitzender der Deutschen Flößer. 1996 begann schließlich eine Vereinigung der Murgflößer in Gernsbach, ihre Arbeit aufzunehmen.

Thomas Kipp aus Schiltach hat im letzten Jahr dann einen großen Traum wahrgemacht: die Rheinfahrt. So viele Flüsse in Deutschland und Europa hatte er schon auf dem Floß kennengelernt, aber noch nie jenen Strom, auf dem einst die langen Holländertannen in den Norden fuhren. Doch das war gar nicht so einfach: Der Rhein ist heute eine vielbefahrene Bundeswasserstraße, auf der eigentlich für Flöße kein Platz ist. 

Doch Kipp blieb hartnäckig, besorgte sich ein Sondergutachten und eine Ausnahmegenehmigung und brach schließlich im Frühjahr 2022 mit einer Gruppe Wildentschlossener auf. Sie fuhren mit ihrem Floß aus 15 Fichtenstämmen von dem Ort Steinmauern am Rhein bis nach Leverkusen-Hitdorf, vorbei am Kölner Dom, der Loreley und dem Deutschen Eck in Koblenz.

Ein Kamerateam des SWR begleitete sie, überall wurden die Flößer von den Anwohnern mit großem Beifall empfangen. Die Rheinfahrt war zugleich eine öffentlichkeitswirksame Werbetour für ein Projekt, das die Traditionalisten nun schon seit rund vier Jahren vorantrieben: Die Aufnahme der Flößerei in die Liste des Immateriellen Kulturerbes der UNESCO.

Seit 2014 war man bereits in der Deutschen Liste des Kulturerbes verzeichnet, doch nun ging es um die internationale Anerkennung. Im Dezember 2022 kam zur großen Freude auch der Schwarzwälder Flößer dann der positive Bescheid: Bei einer Sitzung in Marokko erklärte die UNESCO einmütig die Flößerei zum Immateriellen Weltkulturerbe, eine hohe Auszeichnung, die nur in sechs anderen Fällen in Deutschland vergeben wurde.

Damit geht für viele im Schwarzwald ein Traum in Erfüllung. „Es zeigt den Stellenwert und die große Bedeutung“, sagt auch Thomas Kipp, der zwischenzeitlich eifrig mit den Vorbereitungen des Schiltacher Flößerfestes beschäftigt ist. Am 24. und 25. Juni 2023 wird gefeiert und natürlich auch ein Floß die Kinzig hinuntergesteuert. Diesmal zum reinen Vergnügen und ganz ohne Trauerflor. 

Flößerfeste

Das Schiltacher Flößerfest mit Schauvorführung findet am 24. und 25. Juni 2023 statt (www.schiltacher-floesser.de). Auch beim Altstadtfest in Gernsbach vom 15. bis 17. September 2023 gibt es Floßschauvorführungen (www.murgfloesser-gernsbach.de). In Wolfach wird 2024 wieder ein Flößerfest gefeiert (www.kinzigfloesser.de). Auch in Altensteig finden immer wieder Flößerfeste statt (www.floesser-altensteig.de).

Museen

Folgende Museen nehmen sich dem Thema Flößerei im Schwarzwald an (Auswahl): Heimat- und Flößermuseum Bad Wildbad-Calmbach, Museum im Alten Schloss in Altensteig, Heimatmuseum Wolfach, Flößerei Verkehrsmuseum Gengenbach, Museum Haus Kast in Gaggenau-Hörden, Flößereimuseum Steinmauern, Schüttsägemuseum Schiltach, Flößermuseum Unterreichenbach.

Wanderweg

Auf dem 32 Kilometer langen Flößerweg von Loßburg nach Wolfach kann man viel über die Flößerei auf der Kinzig im nördlichen und mittleren Schwarzwald erfahren. Vor allem der erste Abschnitt zwischen Loßburg und Alpirsbach ist auch ein landschaftliches Erlebnis: www.floesserpfad.de

Immaterielles Welterbe im Schwarzwald

Die Flößerei ist nicht das einzige Immaterielle Kulturerbe, das es im Schwarzwald gibt. Von der UNESCO anerkannt wurden auch das Bauhüttenwesen (Freiburg) und der Orgelbau (Waldkirch), ein erlauchter Kreis, nur sieben Themen aus Deutschland haben bisher diese internationale Auszeichnung bekommen, am 1. Dezember 2022 wurde der Flößerei diese hohe Ehre zuteil. Auf der nationalen Liste des Kulturerbes sieht es etwas anders aus, hier gibt es 131 Einträge, zu denen unter anderem gehören: die schwäbisch-alemannische Fasnet, der Schäferlauf, die deutsche Brotkultur, die Handwerksmüllerei, das Bierbrauen, das Köhlerhandwerk, das Schützenwesen, das Uhrmacherhandwerk, die Weinkultur, Posaunenchöre, Sternsingen, Märchenerzählen und Streuobstwiesen. Baden-Baden ist seit 2021 UNESCO-Welterbe als Teil der insgesamt elf „Great Spa Towns of Europe“, Karlsruhe wurde 2019 als „City of Media Arts“ in das „Creative Cities Network“ der UNESCO aufgenommen und das Biosphärengebiet Schwarzwald ist ausgezeichnet als UNESCO Biosphärenreservat (www.unesco-im-schwarzwald.de). 

Andreas Steidel

Über den Autor

Andreas Steidel

Andreas Steidel ist freier Reisejournalist mit Wohnsitz in Calw im Nordschwarzwald. Er hat festgestellt, dass der Schwarzwald keineswegs so dunkel ist wie sein Name klingt.  Wer sich erst mal intensiv mit ihm beschäftigt, merkt wie viele lichte Seiten er hat und wie viele helle Köpfe es hier gibt. Stoff genug für farbenfrohe Reportagen, die er seit vielen für verschiedene Publikationen macht. Dabei sattelt er gerne das Rad oder schnürt die Wanderstiefel. Als Schwarzwald-Guide führt er zuweilen sogar selbst Gäste durch die Natur.