
Lustwandeln in Schönheit und Harmonie
Mein erster Blick fällt auf das Vitra Design Museum: Mit seiner erfrischend-organischen Wellenform, 1989 entworfen von der amerikanischen Bau-Ikone Frank Gehry, macht es neugierig: Ob das Äußere auch das Innere widerspiegelt? Ich bin gespannt auf die derzeitige Ausstellung „Nike: Form Follows Motion“. Aber die hebe ich mir fürs Ende meines Besuchs auf. Denn es empfiehlt sich, auf dem Campus in den Modus Müßiggang umzuschalten. Bevor ich in einer Ausstellung etwas von der Welt da draußen erfahre, möchte ich zuerst tief eintauchen in den Vitra-Kosmos – los geht’s beim VitraHaus: Das Gebäude – entworfen 2010 von Herzog & de Meuron, einem der renommiertesten Architekturbüros der Gegenwart –, ist das wie Mikado-Stäbchen übereinander gewürfelte Herzstück im Campus. Es signalisiert: Vitra produziert nicht nur Möbel, sondern beschäftigt sich auch mit Architektur, Kunst und Wohnkultur.
Im Eingangsbereich findet sich eine gläserne Produktion des berühmten „Eames-Lounge-Chairs“, dort können Besucher die handwerkliche Vollendung eines Vitra-Klassikers erleben – mein Herz hüpft, wie lange träume ich schon von so einem Sessel für meine Leseecke. Im lichtdurchfluteten Foyer werde ich freundlich empfangen, lege meine Sachen ab, um ganz unbeschwert durch die vier Stockwerke zu flanieren. Farben und Formen in allen Variationen ziehen mich in ihren Bann: Die immer wieder wechselnden Arrangements in unterschiedlichen Stilrichtungen, von verschiedenen Künstlern und Einrichtungsprofis aus der Welt, inspirieren mich für das eigene Zuhause. Der rote Faden sind die Möbelklassiker von Vitra. Ganz oben angekommen, wandele ich inmitten von zeitgenössischem Design und genieße gleichzeitig den Ausblick: Ich sehe auf der einen Seite durch ein überdimensionales Fenster den Tüllinger Berg und Schwarzwald-Reminiszenzen – das „Markgräfler Wiiwegli“, ein rund 90 Kilometer langer Fernwanderweg, nimmt hier seinen Anfang. Durch die entgegengesetzte Fensterfront erblicke ich Basel und die Rheinebene. Nicht nur im Haus hat alles seinen Platz, der ganze Campus ist geradezu perfekt eingebettet in die Landschaft. Innen und außen, alles ist im Einklang.
Von viel Inspiration beglückt, stapfe ich die Stufen vom Loft wieder hinunter, ich muss alles ein wenig sacken lassen. Der Shop im Erdgeschoss bietet ein breit gefächertes Sortiment von Designobjekten, Wohnaccessoires und Publikationen. Es duftet nach frischen Buttercroissants – Zeit für einen Espresso im geschmackvoll eingerichteten VitraHaus Café, dort blättere ich in Design-Katalogen.
Ein bisschen frische Luft tanken, bevor ich in das Design Museum eintauche. Ich schlendere durch den 2020 angelegten „Oudolf-Garten“, den ich bereits aus den oberen Stockwerken bewundern konnte. Der niederländische Gartengestalter Piet Oudolf setzt auf mehrjährige, selbstregenerierende Pflanzen, Stauden, Gräser, Büsche und Wiesenblumen. Auf 4.000 Quadratmeter erstreckt sich ein unkonventioneller Garten, der sich über das ganze Jahr in Form und Farbe verändert. 2023 fand das „Tane Garden House“ des japanischen Architekten Tsuyoshi Tane inmitten des Gartens seinen Platz. Das kleine Gartenhäuschen aus nachhaltigen Materialien verfügt über eine Aussichtsplattform. Ich entdecke von dort oben wieder neue Gebäude, etwa das „Umbrella House“ aus Japan von Kazuo Shinohara, die kleine Wohneinheit „Diogene“ von Renzo Piano oder den 30 Meter hohen Vitra Rutschturm von Carsten Höller – mein nächstes Ziel. Oben angekommen, nehme wieder ich eine völlig andere Perspektive ein und bemerke: Genau, darum geht es eben auch beim Thema Design und Architektur: um die Perspektive.
Nach dem Rutscherlebnis durch die 38 Meter lange, gewundene Röhre spaziere ich beschwingt durch die „Álvaro-Siza-Promenade“ (2014) zum Vitra Schaudepot – das Gedächtnis des Campus: Die Sammlung des Vitra Design Museums umfasst etwa 7.000 Möbel und zahlreiche Archive und Nachlässe und zählt zu den wichtigsten Beständen des Möbeldesigns weltweit. Im Schaudepot sind rund 400 Schlüsselobjekte permanent ausgestellt und jährliche Themenschwerpunkte schaffen Raum für aktuelle Diskurse und wechselnde Inhalte.
Raus aus der Sammlung, erst einmal verschnaufen am Restaurant Depot Deli – dort gibt´s international inspirierte Speisen – mit Blick auf den liebevoll gestalteten „Place Jean Prouvé“ (2022). Ich frage mich: Warum kann es nicht überall so harmonisch-schön sein? Der Mensch im Einklang mit Architektur, Kultur und Natur.
Ein wenig fühle ich mich hier wie ein Student. Stimmt, ich befinde mich ja auch auf einem Campus – hier finden an 365 Tagen im Jahr Workshops, Führungen und Events statt. Es gibt sogar Hörsäle, Architektur-, Produktions- und Ausstellungsführungen. Geballtes Wissen gepaart mit Handwerkskunst auf einem Gebiet so groß wie gut 30 Fußballfelder!
Eine Herausforderung ist bei jeder Gartenschau auch die Mobilität. Wie komme ich dorthin beziehungsweise von A nach B auf einem Gelände, das immerhin acht Kilometer lang ist? Da hilft zum einen die Tatsache, dass parallel allein drei S-Bahn-Haltestellen zu finden sind. Überdies wird es für mobilitätseingeschränkte Menschen einen Shuttle-Service geben und die Möglichkeit, Rollstühle auszuleihen.
In Christophstal darf man sogar in einer Rikscha Platz nehmen und ist ansonsten natürlich eingeladen, einfach gemütlich durch das Gelände zu spazieren. Ein Leitsystem von Wegepunkten führt die Besucher, die Verbindung der beiden Orte Baiersbronn und Freudenstadt mit entsprechender Beschilderung gehört zu den Dingen, die über die Gartenschau hinaus erhalten bleiben. Neu ist überdies, dass man parallel zum Gelände auch auf einem Radweg das „Tal X“ erkunden kann.
Wie Oberbürgermeister Adrian Sonder und Bürgermeister Michael Ruf betonen, ist es vor allem die Infrastruktur, die langfristig von der Gartenschau profitieren wird. Die Grünanlagen, der Kurpark, die Adlersteige, die Schaugärten und Spielplätze – all das wird bleiben. In Friedrichstal wurde das Schmiedemuseum erweitert und eine Brücke erneuert. Überdies ist der Zugang zum S-Bahnhof nun komplett barrierefrei.
Grund genug also, einmal in Freudenstadt und Baiersbronn vorbeizuschauen – ob nun während der Gartenschau oder danach.
Nun gehe ich wieder an den Anfang meiner Tour ins Design Museum und schnuppere noch vorbei am Vitra Circle Store – dort wird gebrauchten Vitra-Möbeln ein zweites Leben eingehaucht. So schließt sich also der Kreis.
Mit „Nike: Form Follows Motion“ präsentiert das Vitra Design Museum die erste umfassende Museumsschau über die weltweit größte Sportmarke. Noch bis zum 18. Mai 2025 verfolgt die Ausstellung in vier chronologisch geordneten Abschnitten den Aufstieg des amerikanischen Unternehmens von einem lokalen Start-up zu einem globalen Phänomen und legt den Fokus auf die faszinierende Designgeschichte. Diese reicht von den experimentellen Anfängen in den 1960er Jahren und dem Entwurf des berühmten „Swoosh“-Logos Anfang der 1970er über Innovationen wie die Air-Sohle bis hin zu aktuellen Forschungen zu Nachhaltigkeit und neuen Materialien. Zugleich untersucht die Ausstellung die Rolle des Sports in unserer Gesellschaft sowie die fast mythische Verehrung von Sneakers und Sportmode in Popkultur und sozialen Medien.
Ich freue mich schon auf die nächste Ausstellung „Die Shaker – Weltenbauer und Gestalter“ im Museum, die ab 7. Juni bis 28. September 2025 zu sehen ist. Thematisch geht es um die einzigartige Designkultur der im 18. Jahrhundert gegründeten amerikanischen Gemeinschaft der Shaker, um Gestaltungsideale und radikal reduzierte Objekte – ihre Ideen hatten prägenden Einfluss auf das moderne Design und inspirieren Designer, Künstler und Architekten bis heute. Ich bin gespannt.
Bis dahin werde ich die Welt mit anderen Augen betrachten, andere Perspektiven einnehmen – die Harmonie und Begeisterung, die ich auf dem Vitra Campus erfahren habe, klingen lange nach.
Vitra und Weil am Rhein:
1937 übernimmt Willi Fehlbaum das Basler Ladenbaugeschäft Graeter. 1950 expandiert das Ehepaar Fehlbaum mit ihrer Möbelproduktionsfirma Vitra und lässt sich auch in Weil am Rhein nieder. Ein Großbrand zerstört 1981 weite Teile der dortigen Produktionsanlagen. Der Startschuss, die Architektur in die Produktionsstätte miteinzubeziehen – seitdem entstehen kontinuierlich Erweiterungen und Gebäude von Stararchitekten auf dem Firmengelände. Der Großteil des Campus ist frei zugänglich.
Wander-Tipp: „24 Stops“ auf dem Rehberger-Weg
Der Rehberger-Weg verläuft über fünf Kilometer zwischen dem Vitra Campus und der Fondation Beyeler im schweizerischen Riehen. Geleitet von 24 Wegmarken des Künstlers Tobias Rehberger – „24 Stops“ – lässt sich eine vielfältige Natur- und Kulturlandschaft erkunden, alleine oder auf einem geführten Spaziergang.
ÖPNV-Tipp und „Designweg“:
Am „Vitra Designweg“ von der Tramhaltestelle im Stadtzentrum von Weil am Rhein zum Südeingang des Vitra Campus warten zwölf laternenartige Vitrinen: Sie präsentieren Miniaturen des modernen Möbeldesigns aus der Sammlung des Museums, vom Kaffeehaus-Stuhl von Thonet über Möbel von Le Corbusier bis zu Entwürfen von Charles und Ray Eames.
Fahrrad-Tipp:
Abstecher nach Basel mit Leihfahrrad: Seit kurzem verfügt der Campus gemeinsam mit PubliBike.ch über eine Fahrrad-Station, damit ist ein Katzensprung nach Basel garantiert.